Schnell verstehen, heißt schnell missverstehen.
Wenn ein Kind in der Schule von einem Lehrer als unkooperativ gesehen wird, hat das immer einen triftigen Grund. In den wenigsten Fällen sind es „Konzentrationsschwäche“ oder „fehlende Lernbereitschaft“. Kinder wollen kooperieren. Warum sie es manchmal nicht können, ist die wichtigste Information, die es gilt, herauszufinden, um das Problem zu lösen.
Fall-Beispiel
Felix, acht Jahre, geht in die zweite Grundschulklasse. Er fällt der Mathe-Lehrerin unangenehm auf, da er häufig den Unterricht stört, sich lieber mit seinen Mitschülern unterhält und sich schlecht auf den Stoff konzentrieren kann. Die Eltern vermuten vielleicht ganz richtig, dass Felix sich nicht so recht traut, auf die Lehrerin zuzugehen. Wenn man aber Felix danach fragt, ob er in der Lage ist, die Lehrerin um Hilfe zu bitten, antwortet er mit „Ja“. Auch die Lehrerin hat darum nicht den Eindruck, dass Felix zu schüchtern ist, denn er wendet sich mit Fragen an sie und sucht den Kontakt zu ihr – er macht gut mit, so lange es nicht bedeutet, dass er still arbeiten soll. Dann stört er vermehrt den Unterricht und redet unangemessen viel mit seinen Mitschülern.
Die Lehrerin interpretiert dies als mangelnde Bereitschaft und teilweise Unfähigkeit, dem Unterricht zu folgen; also an ihn gestellte Anforderungen zu erfüllen. Würde man aber Felix fragen: „In wie vielen von vier Fällen, in denen du Hilfe brauchst, fragst du deine Lehrerin?“, käme das Problem von Felix zutage, denn seine Antwort würde „in einem“ lauten.
Wenn man Felix außerdem zuhört, ist er der Meinung, dass es ziemlich wichtig ist, dass man schlau ist. Denn schlau sein bedeutet, das man gemocht wird. Etwas nicht zu wissen, ist für Felix schwierig einzugestehen, denn dadurch sinkt man seiner Meinung nach im Ansehen der anderen. Aus diesem Grund weiß er viele Dinge auch schon besser als seine Mitschüler und auch als seine Lehrerin. Die ist beizeiten von Felix Besserwisserei irritiert, da er seine nicht korrekten Ergebnisse sehr überzeugend verteidigt.
Felix, der besonders im Matheunterricht weniger Spaß hat und dem Leistungsstand hinterherhinkt, bekommt Förderunterricht. Die Förderlehrerin berichtet von demselben Phänomen: Felix weiß vieles einfach besser.
Felix arbeitet ganz klar an seinem Image. Dass es für ihn sehr wichtig ist, nicht dauernd derjenige zu sein, der etwas nicht verstanden hat und für den Fehler und Nichtkönnen ein Zeichen von Schwäche sind, sollte für seine Lehrer zunächst die wichtigste Information sein.
Obwohl Felix sehr bemüht ist, sein Ansehen in der Klasse zu erhalten und es zu steigern, erreicht er oft eher das Gegenteil: Die Lehrer sind irritiert von ihm, andere Schüler bemerken, dass er zwar sagt: „das weiß ich schon!“, es aber dann nicht wirklich weiß.
Es ist wesentlich, die Wahrnehmung sowohl vom Lehrer und Schüler gleichermaßen anzuerkennen und sie auf mögliche Unterschiede zu überprüfen. Dort, wo die größte Abweichung stattfindet, verbirgt sich häufig das „Problem“.
Felix eigentliches Problem ist weder, dass er ein sehr Energie geladenes Kind ist – also viel Bewegungsdrang verspürt – noch, dass er unkonzentriert ist. Felix Hauptproblem ist, dass er sich nicht traut, zuzugeben, dass er etwas nicht kann. Wenn es vorkommt, dass er eine Aufgabe nicht versteht, überdenkt Felix folgende Optionen:
- Er fragt einen oder mehrere ihm vertrauten Mitschüler, muss aber befürchten, von der Lehrerin als störend eingestuft zu werden. Dieses Risiko nimmt er in Kauf. Der Kontakt zu den anderen ist außerdem spannender als die Aufgabe, die er nicht verstanden hat.
- Er tut so, als verstünde er die Aufgabe und unterhält derweil die anderen Mitschüler mit kleinen Darbietungen (da er die Aufgabe nicht erledigen kann, ist ihm langweilig).
- Er fragt die Lehrerin lieber nicht, weil er befürchtet, von ihr als „dumm“ angesehen zu werden (was ihm schwerer fällt, als von den Mitschülern als solches angesehen zu werden)
- Er fragt die Lehrerin, aber nur, wenn sie „gute Laune“ hat oder wenn es Felix gerade gut geht.
Felix, der ein großes Geltungsbedürfnis hat, ist nach außen hin kein leises oder schüchternes Kind. Dies wird ihm immer dann zum Verhängnis, wenn er etwas nicht kann oder sich nicht zutraut.
Wenn auch Felix zu dem unglücklichen Schluss kommt, er könne sich nicht konzentrieren, würde zu lange für eine Aufgabe brauchen oder immer nur ablenken, bekommt er ein falsches Selbstbild. Es kann es passieren, dass seine Scheu, eine Schwäche zuzugeben zu genau dem Problem wird, um das es eigentlich nicht gehen sollte: Felix kommt sich noch dümmer vor, als ohnehin schon.
Seine Anspannung im dem Unterrichtsfach, das im am schwersten fällt, trägt dazu bei, dass er tatsächlich oft nicht mehr richtig zuhören kann. Dieser Stress kann dazu führen, dass er weniger versteht, als er tatsächlich verstehen würde und seine Leistungen in dem Fach noch weiter abrutschen.
Für Felix wäre es gut, wenn er es als legitim empfindet, dass es mehr als in Ordnung ist, um Hilfe zu bitten. Dass etwas „nicht verstehen“ so sein darf und er so lange fragen darf, bis er es verstanden hat. Dass es außerdem ganz normal ist, in einem Fach besser zu sein als in einem anderen. Dass Schule zum Lernen da ist, da kein Kind alles kann. Die Erwachsenen können ihm dabei helfen, indem sie hierüber ein ernsthaftes aber nicht sorgenvolles, sondern ermutigendes Gespräch mit Felix führen.
Zu stärken wären Felix tolle Eigenschaften. Nämlich: Dass er gerne in allem sehr gut sein möchte. Dass er einen so guten Kontakt zu seinen Mitschülern unterhält und stets bereit ist, für andere Schüler einzustehen. Dass er engagiert im Klassenrat mitmacht. Dass er ein wirklich guter Entertainer ist, lustige Grimassen machen und Witze erzählen kann. Dass er den Mut hat, vor allen Augen eine wichtige Rolle in einem Theaterstück zu spielen und eine wundervolle Fantasie in seinem Spiel entwickelt.
Tipps für Eltern
Wie können Sie Ihrem Kind helfen? Wenn es Schwierigkeiten in der Schule äußert oder dies von den Lehrern an sie herangetragen wird, können Sie lernen, wertvolle Informationen zu erhalten, bei denen Sie schneller zum Kern der Sache kommen. Viele Eltern fischen im Trüben, wenn ihr Kind sagt: Die Lehrerin mag mich nicht. Dieser Satz kann alles und nichts bedeuten. Er kann eine Laune des Tages sein, er kann aber auch auf etwas Tieferes hindeuten. Worauf können Sie achten?
Beobachten Sie, wie häufig Ihr Kind eine Sorge oder einen Gedanken äußert, z. B.:
- „Ich will heute nicht in die Schule gehen“,
- „Kannst du mich von der Schule abmelden?“
- „Frau X mag mich nicht.“
- „Ich bin zu dumm für …“
- „Ich habe Bauchweh“
- „Mir ist langweilig im …Unterricht“
- „Das hatten wir alles schon mal“
- „Die Lehrerin versteht mich nicht“
- usw.
Nehmen Sie die Äußerungen Ihres Kindes ernst, wenn Sie den Eindruck haben, dass diese gehäuft auftreten und eine Belastung für Ihr Kind darstellen.
Sprechen Sie mit Ihrem Kind in Ruhe über die schulischen Erlebnisse und Themen. Stellen Sie ihm einfache Fragen, auf die es in der Lage ist, einfache Antworten zu geben. Machen Sie Schule nicht zum Thema, wenn Sie selbst gerade gestresst oder ungeduldig sind.
Genau nachfragen – wie geht das?
Skalierungsfragen sind eine gute Methode, um die Schwere eines Problems zu erfassen. Differenzieren Sie Ihre Fragen. Wenn ein achtjähriges Kind gefragt wird, ob es sich gut konzentrieren kann, weiß es vielleicht nicht, was damit gemeint ist. Die Lehrer haben zwar den Eindruck, es kann sich gut konzentrieren, da das Kind in seine Aufgabe vertieft zu sein scheint. Wenn es aber antwortet: „Mittel“, dann bedeutet dies, dass es seine Fähigkeit, sich zu konzentrieren als nicht so gut einstuft, da es ihm zum Beispiel im Klassenraum zu laut ist.
Erwachsene waren auch mal Schulkinder
Erzählen Sie Ihrem Kind von ihren eigenen Erlebnissen in der Grundschule und wo Sie selbst manchmal Schwierigkeiten hatten. Machen Sie aber kein „Therapiegespräch“ daraus. Es gibt Ihrem Kind das Gefühl, dass Sie verstehen, womit es sich gerade möglicherweise abmüht.
Über Lösungen nachdenken
Fragen Sie Ihr Kind, welche eigenen Lösungsmöglichkeiten es vielleicht im Sinn hat. Wenn es keine Möglichkeit sieht, bieten Sie ihm etwas an und fragen: Kommt das für dich in Frage? Wenn es das nicht weiß, bitten Sie Ihr Kind, darüber nachzudenken und zu einem späteren Zeitpunkt darauf einzugehen. Wenn es nicht von selbst daran denkt, leiten Sie das Gespräch erneut ein.
Ich freue mich für dich!
Ermutigen Sie Ihr Kind im Alltag, indem Sie seine Stärken hervorheben und ihm sagen, worüber Sie sich freuen. Zum Beispiel: Ich freue mich, dass du mir den ersten Absatz aus dem Buch vorgelesen hast. Es hat mir Spaß gemacht, dir zuzuhören. Lassen Sie Ihr Kind Aufgaben erledigen, die es gerne macht und teilen Sie das Erfolgserlebnis mit ihm. „Oma wird sich ganz sicher über deine selbst gebastelte Postkarte freuen und dass du ihr erzählt hast, was du gerade machst.“
Lösen Sie das Schulproblem nicht mit noch mehr Schule daheim!
Wenn Sie meinen, dass Sie mit ihrem Kind zuhause üben sollten (rechnen, lesen, schreiben) tun Sie das. Achten Sie nur in jedem Fall darauf, dass Ihr Kind nicht denkt, dass Sie es für zu langsam oder für nicht intelligent genug halten. Manche von Herzen kommende Maßnahme von Eltern ist zwar gut gemeint, aber nicht gut gemacht. Nachhilfeunterricht mit Papa oder Mama, ohne, dass es beiden auch Spaß macht, hat wenig bis kaum einen echten Nutzen. Prüfen Sie darum vorher unbedingt Ihre Beweggründe. Welche Sorge oder Angst treibt Sie? Was wollen Sie erreichen: dass Ihr Kind in der Schule funktioniert oder dass es sich im Unterricht authentisch verhalten kann? Sehen Sie Konkurrenz wo noch keine ist?
Zuhause Lernen soll Spaß machen
Probieren Sie, die Lernzeit nicht als solche zu deklarieren, sondern eher in ein Spiel oder eine gemeinsame Aktivität einzubauen. Welche Dinge tun Sie selbst gerne? Zum Beispiel Vorlesen? Dann lesen Sie einen Absatz und bitten Sie ihr Kind, ebenfalls einen zu lesen (imitieren Sie dabei die Rollen, sprechen Sie mit unterschiedlicher Betonung und machen ein kleines Theaterspiel aus den Dialogen im Buch).
Erinnern Sie sich an Ihre eigene Schulzeit. Was hat Ihnen genützt? Was hat nichts gebracht? Ihr Kind wird sich nicht so groß von Ihnen unterscheiden.
Tipps für die Kommunikation mit den Lehrern Ihres Kindes
Unterschiedliche Wahrnehmungen akzeptieren
Nutzen Sie die Elterngespräche dafür, eine kurze, aber aussagekräftige Liste mit positiven Aussagen sowie Kümmernissen Ihres Kindes mitzubringen. Berichten Sie den Lehrern von Schlüsselsätzen aus dem Alltag mit Ihrem Kind. Wenn die Antwort ist: „Das überrascht mich. Ich erlebe Ihren Sohn/Ihre Tochter aber ganz anders, als Sie es gerade berichten.“, versuchen Sie nicht, vom Gegenteil zu überzeugen. Es ist hilfreich, die Wahrnehmung des Lehrers auf Ihr Kind anzuerkennen.
Dass die Sichtweisen sich ggf. voneinander unterscheiden können, hat damit zu tun, dass Ihr Kind möglicherweise eine Stärke oder Schwäche nicht ausreichend zeigen kann. Dies kann dazu führen, dass ein Lehrer eine nicht ganz zutreffende Einschätzung über Ihr Kind hat. Es kann auch andersherum sein: Dass Sie als Eltern eine andere Wahrnehmung haben.
Sie können maßgeblich dazu beitragen, Ihrem Kind zu helfen, indem Sie offen und authentisch mit der Lehrerschaft im Gespräch sind.
Von der Defizitorientierung zur Ressource
Lassen Sie sich nicht zu sehr beunruhigen, wenn ein Lehrer über ein Defizit Ihres Kindes mit Ihnen sprechen will. Fragen Sie unbedingt nach den positiven Ausnahmen im Verhalten Ihres Kindes:
- In welchen Situationen verhält sich mein Kind kooperativ?
- Wann und wie zeigt mein Kind große Motivation und Spaß im Unterricht?
- Welche Stärken erkennen Sie bei meinem Kind und können Sie diese für Ihren Unterricht nutzen?
Sollte der Lehrer dies nicht sofort beantworten können, bitten Sie darum, dass dies noch besser beobachtet wird und lassen Sie sich über die Ergebnisse nach angemessener Zeit unterrichten.
Fragen Sie, ob es für den Lehrer hilfreich wäre, von Ihren eigenen Erfahrungen und Erfolgserlebnissen in der Zusammenarbeit mit Ihrem Kind zu erfahren.
Sprechen Sie ehrlich Ihre Sorgen und Ängste an. Denn häufig können einem die Lehrer etwas sehr Erfreuliches über das eigene Kind mitteilen, mit dem man gar nicht gerechnet hat. Besonders, wenn Eltern der Meinung sind, ihr Kind hinke im Unterricht hinterher oder könne manches noch nicht so gut, wie sie es eigentlich erwartet hätten. Dem fachlichen Urteil der Klassenlehrerin zu vertrauen und ihre Einschätzung zu erfragen, hilft unsicheren Eltern dabei, einen zu problemorientierten Blick auf ihr Schulkind zu überwinden und sich mit dem Lehrer gemeinsam über Erfolge ihres Kindes zu freuen.