In der Beziehung zwischen Martina und Beate knirscht es. Martina ist seit zwei Jahren mit Beate befreundet und an einem Punkt angelangt, wo sie sich aus der Freundschaft zurückziehen möchte, „etwas Gras über alles wachsen“ lassen will. Gelassen ist sie dabei nicht. Eher verletzt, enttäuscht und auch sehr verärgert. Beate habe sich mehrmals von ihr Dinge geliehen und sie einfach behalten, habe es immer wieder geschafft, sie in ihre Projekte, ja sogar als Interviewerin für ihr Marketing-Projekt einzuspannen. Meistens setze sie einfach voraus, dass Beate schon mitmachen werde. Martina, die sich häufig überrumpelt vorkommt und lieber gerne explizit nach ihrem Einverständnis gefragt werden möchte, hat nun genug davon. Auf die letzte Anfrage, sich doch einige Informationen zu einem Projekt anzuschauen, reagierte sie mit einem klaren „Nein“ und dem Hinweis, dass sie Beates Art, sich ihrer zu bemächtigen als unzumutbar empfände. Daraufhin hagelte es aggressive Mails und SMS von Beate. Genau wie Beschwichtigungsversuche über das Versprechen, die geborgten Sachen zurückzugeben. Martina glaubt nicht, dass es Beate ernst damit ist, da sie sie kenne. An ihrer Rückforderung Ihrer Sachen würde das aber nichts ändern.
Folgende Fragen sind hilfreich, um Klarheit in der Beziehung zu Beate zu erlangen:
- Kommt Ihnen die derzeitige Situation, in der Sie sich mit Beate befinden, bekannt vor? Haben Sie das bereits in anderen Beziehungen erlebt?
- Wie hätten Sie sich gerne bei vergangenen Bitten und Anfragen vonseiten Beate verhalten, wenn Sie sich nochmal neu entscheiden könnten?
- Über wen ärgern Sie sich in Wirklichkeit, wenn Sie die Situationen bewerten, in denen Sie einer Aufforderung nachgekommen sind?
- Wie reagieren Sie, wenn Ihnen jemand eine Bitte abschlägt? Welche Gefühle haben Sie dabei?
- Möchten Sie von anderen ebenso behandelt werden wie Sie die anderen behandeln?
- Was ist Ihre wertvollste Eigenschaft im Umgang mit Menschen?
- Wie stark auf einer Skala von eins bis zehn fühlen Sie sich von Beate gewertschätzt (1= gar nicht, 10 = sehr stark)?
- In welchen Fällen haben Sie sich von Beate unterstützt gefühlt bzw. von der Freundschaft profitiert? Oder in Prozent gerechnet: Wie viel Prozent von hundert geben Sie Beate für ihre an Sie geleistete Hilfe?
- Welchen Nutzen/ welchen Gewinn ziehen Sie für sich aus der Beziehung zu Beate? Kann es sein, dass Sie als diejenige, die hilft, einen großen Wert für sich erkennen?
- Welche Eigenschaften an Beate schätzen Sie bzw. was mögen Sie an Beate gerne?
- Erinnern Sie sich an Situationen, in denen es Ihnen gelungen ist, einer Bitte nicht Folge zu leisten. Wie ist es Ihnen damit gegangen und was haben Sie anders gemacht?
- Wenn das Problem zwischen Ihnen und Beate wie von Zauberhand geklärt wäre, welche Erwartungen hätten Sie dann an Beate für die Zukunft?
- Welche Erwartungen hätten Sie an sich selbst?
- Würde Ihre Hilfsbereitschaft sich verändern, wenn Beate es schaffen würde, angemessen höflich und ruhig um Unterstützung zu bitten?
Ich warte darauf, dass du etwas machst, das ich nicht kann
Enttäuscht sind Menschen immer dann voneinander, wenn ihre Erwartungen an den anderen von diesem nicht erfüllt worden sind. Das Wort „Erwartung“ gibt es her: Ein Mensch wartet darauf, dass der andere etwas tut oder lässt. So lange nur gewartet aber nicht ausgesprochen wird, was eigentlich die Erwartung ist, kann jemand in dieser Schleife – manchmal lebenslänglich – hängen bleiben.
Das ist, wie in einer automatischen Telefonwarteschleife festzusitzen und sich für keine der möglichen Optionen zu entscheiden.
Es wird ein bestimmtes Verhalten vom anderen vorausgesetzt, wie etwa Rücksichtnahme auf die eigenen Gefühle und Bedürfnisse, Nachsicht mit Schwächen oder Macken. Die Erwartungshaltung steigert sich, je mehr eine Person der anderen einen Gefallen tut und je weniger sie dafür zurückbekommt. Erhalten die Gefälligkeiten den Stempel „Das habe ich nur für dich getan“, findet die Person keinen Gewinn darin mehr für sich selbst.
Der Qualitätsverlust macht sich über Bewertungen bemerkbar, wie etwa:
- „Ich werde bloß ausgenutzt“
- „Du bist rücksichtslos“
- „Du bist undankbar“
- „Ich werde von dir nicht ernst genommen“
- „Immer nimmst du nur“
- „Die Freundschaft wird mir zu anstrengend“
- „Ich möchte mit dir nichts mehr zu tun haben“
Sag es, aber sag es richtig
Aus der Perspektive des Hilfesuchenden herrscht unter Umständen kein Bewusstsein darüber, dass eine Bitte falsch geäußert sein könnte oder Hilfe etwa nicht vorausgesetzt werden dürfe.
Im Fall von Martina und Beate hat wenig im Verhalten von Martina darauf hingedeutet, dass sie verärgert oder verletzt sein könnte. Schließlich hat Martina bei ihren zahlreichen vergangenen Anfragen letztlich eingelenkt und Beate geholfen. Die zuvor nicht ausgesprochenen „Neins“ kamen erst in der letzten Aufforderung an die Oberfläche: mit Martinas harscher Reaktion auf Beates dauernde „Unverfrorenheit“.
Beates Art, Martinas Unterstützung auch dann beanspruchen zu wollen, wenn diese mit den Zähnen knirschte, kann man als unfein und unsensibel betrachten. Sie nahm das ein oder andere Mal billigend in Kauf, dass die Hilfe nicht von Herzen kam.
Die Erwartung, Beate müsse dies spüren oder von sich aus einlenken: „Ich sehe, du hast gerade keine Energie dafür, mir zu helfen“, ist ein Anspruch von Martina, den Beate nicht erfüllen kann. Martinas wertvolle Eigenschaft, ausgesucht höflich zu sein und ein Empfinden für die Überforderung ihrer Menschen zu haben, steht ihr in dieser Sache im Weg, da Beate ganz anders als sie selbst ist. In vielen anderen Fällen fährt Martina sehr gut damit.
Gespür für Nehmen und Geben
Wenn schließlich der Kragen platzt oder die Hutschnur hochgeht, liegt dies in der Regel daran, dass der Gebende in der Beziehung zu oft gegeben hat und der Nehmende das rechte Maß nicht einhielt. Beide – Gebender und Nehmender – haben jedoch nicht klar gemacht, was sie voneinander erwarteten. Der Gebende, der auch seinen Selbstwert daraus bezieht, scheinbar freizügig mit seinen Gaben haushaltet („Klar, helfe ich dir. Das machen Freunde doch so“) wird in dem Moment zum Gläubiger, in dem es ihm selbst nicht gut geht und er seinerseits etwas benötigt. Der Nehmende, dem seine Hilflosigkeit häufig nutzt, um schwierige Aufgaben zu meistern, sieht sich mit seiner Täterschaft konfrontiert und darf plötzlich kein Opfer mehr sein („Du hast doch nichts dagegen, das für mich zu tun. Ohne dich schaffe ich es nicht“).
Täuschungsmanöver und ihr gutes Ende
Diese Art von „Enttäuschung“ ist für die Beteiligten eine gute Chance, sich ihrer Verhaltensmuster bewusst zu werden und den Streit zu nutzen, um über ihre Wünsche und Bedürfnisse nachzudenken.
Soll die Freundschaft bestehen bleiben, wenn ich mein Verhalten ändere? Was geschieht, wenn ich meine Geberrolle verlasse und besser für mich sorge? Kann ich akzeptieren, dass der andere, der an seiner Rolle festhalten möchte, sich von mir abwendet, da ich nicht mehr seine sondern meine Bedürfnisse erfülle? Oder macht es ihm etwa gar nicht so viel aus?
Welche Qualitäten könnte diese Freundschaft für mich bereit halten, wenn ich meine Erwartungen auf ein Mindestmaß reduziere? Welche positiven Eigenschaften des anderen würden dadurch geweckt und waren es nicht genau die, von denen ich anfangs begeistert war und profitieren durfte?
Lieber Ärger, danke, dass du da bist!
Ein Streit ist etwas, dem viele Menschen lieber aus dem Weg gehen möchten.
Das Produktive am Streiten ist jedoch, dass es eine aktuelle Gelegenheit bietet, sich ehrlich mit sich auseinanderzusetzen. Eine Möglichkeit, die den Auftakt für eine gewünschte Veränderung gibt.
Der starke Ärger „über“ einen anderen Menschen bedeutet übersetzt: Irgend etwas an dieser Episode beschäftigt mich so sehr, dass ich ihr auf den Grund gehen will. Der Ärger ist die Zaunlatte, mit der man sich selbst zuwinkt, um ein Problem zu lösen, das nicht zum ersten Mal im Leben auf den Plan gerufen wurde.
Man könnte auch sagen: Je stärker der Ärger, umso größer die Motivation, sich einer Sache zu stellen und in Zukunft anders zu handeln.