Die Kunst des Unglücklichseins

14. September 2013

Ich habe eine Freundin, die immer, wenn ihr die neurotischen Probleme anderer zu viel werden sagt: „Ach, weißte, denen geht’s einfach zu gut!“ Freilich darf man so etwas nicht sagen, wenn einem ein wahrhaft deprimierter Mensch gegenübersitzt.

Zu den vielen, die ihr Unglücklichsein hegen und pflegen, die nie irgendwo ankommen (wollen), weil sich sonst die Prophezeiung eines noch größeren Unglücks als richtig erweist, sei gesagt: Warum auch nicht? An ihrem Zustand änderte sich nichts, auch wenn sie dies glauben; denn natürlich existiert für sie ein worst case, dem ein noch worsterer case folgen wird. Ob das Unglück nun in der Gegenwart herrscht, aufgrund vergangener Unglücke, in der Zukunft liegt garantiert ein ebensolches, wenn nicht größeres Unglück. Das Unglück, das bereits einen großen Teil ihres Lebens ausmacht, ist sich selbst der beste Nährstoff. Recht haben sie, denn sie wissen mehr als wir anderen, die wir so inflationär mit dem Glücksbegriff umgehen. Tatsächlich gibt es so etwas wie stetige Glückseligkeit nicht. Solche Zustände halten im Normalfall nur wenige Sekunden an. Und halten sie länger, sind in der Regel Drogen im Spiel. Dann sind sie vorüber, wie der jeweilige Augenblick. Eine Utopie, das dauerhafte Glück. Überhaupt, eine Erfindung der Erwachsenen. Fragte man ein Kind, was Glück ist, bekäme man die Antwort: „Wenn ich auf der Straße fünfzig Cent finde.“

Der Unglückliche glaubt, er dürfe keinen Spaß haben und immer dann, wenn er aus Versehen doch welchen hat, plagt ihn hinterher das schlechte Gewissen. Faulsein, Muße haben, sich mit den schönen Dingen des Lebens beschäftigen: Das sind für ihn Ablenkungsmanöver vom Wesentlichen: dem Unwillen Ausdruck zu verleihen, funktionieren zu müssen. Was er glaubt, das andere ihm durch Eintrichtern eingeimpft haben, ist zu seiner eigenen Wahrheit geworden. Auch wenn die Flüsterer oder Schreihälse – je nachdem – natürlich keine Einbildung waren.

Das Gegenteil aber, dass es auch Menschen gibt, die sich vehement fürs Nichtstun aussprechen und sich ausgesprochen wohl damit fühlen, glaubt er nicht. Würde man dem Unglücklichen Mußestunden zu bestimmten Zeiten verordnen, würde er sich wahrscheinlich dagegen wehren, um nicht erleben zu müssen, wie saugut es sich anfühlt, dafür eine Legitimation zu erhalten.

Zwar ist es genau das, was er sich wünscht, aber dann wäre er gleichzeitig gezwungen, sein Unglücklichsein aufzugeben. Der Unglückliche will um keinen Preis nur funktionieren, das ist ihm zu billig; er will leben – auch wenn das paradox klingt. Dass er lebt, einen Körper hat, spürt er am deutlichsten, wenn er sich dem Leben verweigert. Sein Körper bekommt alle möglichen Krankheiten, die ihm bestätigen: es ist nicht gut, bloß zu funktionieren. Doch weil er sich schuldig fühlt, nicht glücklich zu funktionieren, funktioniert er eben auf unglückliche Art.

Seine Funktion ist mit dem Kranksein und auf der Stelle treten bereits erfüllt. Wobei, dass er auf der Stelle tritt, betont er selbst am häufigsten. Vielleicht fiele es den anderen weniger, auf, ginge der Unglückliche nicht so oft damit hausieren. Dafür hätte er eben gerne den Segen seiner Lieben. Diese Optimisten, die ihm aber ständig sagen, er solle jetzt endlich „mal hin machen“ und „zusehen“, stören sein Dasein in der Misere. Und werden beizeiten doch recht lästig. Stattdessen sollen sie mitfühlend sein und sich hilfsbereit zeigen. Eventuelle Aufforderungen, mal die Sau rauszulassen oder sich in erschöpfende Aktivitäten zu stürzen, lehnt der Miserable ab mit dem Hinweis, solcher Art Anliegen gefährden bloß die Gesundheit. Er selbst achtet sehr auf seine Ernährung und viele Ruhepausen und Ungestört sein.

Rausholen aus seinem Unglück lässt er sich nicht. Ungläubige Fragen nach den Gründen seines Zustandes kann er ausführlich, in epischer Breite beantworten. Auf Fragen, die ein „was wäre, wenn alles gut wäre?“ beinhalten, antwortet er zwar, dass er dann „endlich leben könne, dann käme endlich die Zeit, all die Dinge zu tun, die er immer schon mal tun wollte“. Wirklich glauben tut er das jedoch nicht. Das „endlich“ nimmt er bereits vorweg ins Heute. Denn jedes Glück ist schließlich „endlich“ und geht vorbei. Die Aussicht auf eine Freude versprechende Zukunft versperrt er sich mit dem Glauben an die sich selbst erfüllende Prophezeiung, dass eine solch frohe Zukunft niemals stattfinden kann.

Allein das Nachdenken über die Früchte von zielgerichteter Anstrengung rauben ihm zu viel Energie, die er lieber darauf verwendet, Vermeidungstaktiken für an ihn gestellte Anforderungen zu ersinnen. Eine schwierige Aufgabe zu bewältigen, würde ihn bloß von seinem Ziel fortführen und ablenken: sich mit seinem kranken Körper zu befassen, die Sorgen in seinen Gedanken hin und herzuschieben, was er alles nicht erledigt hat und warum es heute wieder mal nicht ging (zu viele Arzt-Termine, mehrstündige Ablenkungsmanöver durch Telefonate, Auseinandersetzungen mit den Problemen anderer Leute, auf die der Unglückliche nur sehr begrenzt einzugehen vermag plus der anschließende Berg von Schuldgefühlen, die aus dem Tag, der Woche, dem Leben, resultieren). Die Angst, die Aufgabe nicht zu schaffen, da er keine schönen konkreten Pläne für „danach“ hat, lässt ihn alles so behalten, wie es ist: irgendwie unkonkret.

So weit geht bei manchem das Unglücklichsein, dass dieser Mensch, wenn er in einer Beziehung lebt und der Partner es lange genug mit ihm aushält, diesen nicht ernst nimmt. Wenn der Unglückliche dann tatsächlich einmal ans – natürlich utopische – Ziel gelangte, nämlich vollkommen gesund und zufrieden zu sein, würde er sich sofort von diesem Partner trennen. Immerhin sähe sein Leben dann komplett anders aus, der andere würde ihn nicht mehr wiedererkennen und schließlich hat der Partner diverse Schwächen und einen mangelhaften Charakter, dem man ihm nur so lange verziehen haben würde, wie man selbst zu schwach und unglücklich war, um darauf auch noch groß zu achten. So lange die Beziehung jedoch ihren Nutzen hat, bleibt alles, wie es ist. Dieser kurze Ausflug ins „Was wäre wenn“ – eine bescheidene Extravaganz, mehr nicht. Ein kleines Kontrastprogramm, um zu checken, dass es auf der Schattenseite des Lebens eben doch besser ist.

„Dem geht’s zu gut.“ Würde meine Freundin sagen. Recht hat sie. Jemand, der so viel Zeit und Energie darauf verwenden kann, an pessimistische Vorhersagen zu glauben, unzählige Stunden in Wartezimmern von Ärzten zu verbringen, seine zahlreichen Diagnosen im Internet nachzuschlagen und sich daraufhin noch mehr Gedanken zu machen, Heil- und Hilfsmittel in umständlicher Weise anzuwenden, sich immerfort Menschen zu organisieren, die ihn mit dem von ihm Benötigten ausstatten, stets mit der Geldknappheit am Rande des Existenzminimums zu balancieren und zusätzliche Stunden der Muße, Freundschaftspflege und kulturellen Erbauung – mit zugegebenermaßen nagenden Schuldgefühlen – dazwischen zu quetschen: bei dem ist alles in bester Ordnung.

Lassen wir den Unglücklichen so sein wie er ist. Mischen wir uns nicht ein. Sonst kann es passieren, dass wir ihm all seine Unfähigkeit, Schwäche und Hilflosigkeit abkaufen. Aber unfähig, schwach und hilflos: Nein, das ist er nicht.

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